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„Vom Aufstehen“ heißt der Erzählband von Helga Schubert, in dem die mittlerweile 82-jährige Schriftstellerin und Psychologin in kleinen Momenten geradezu beispielhaft ein Jahrhundertleben mit seiner ganzen Ambivalenz beleuchtet. Unter den 29 Erzählungen findet sich auch „Meine Ostergeschichte“ (Helga Schubert, Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten, München 2021, 49–52), und die beginnt so: „In allen anderen Vorgärten hängen schon Wochen vor Ostern die ausgeblasenen und dann bemalten Hühnereier oder die Plastikeier im Wind, in den Regalen reihen sich die Osterhasen. Nur ich will den Osterbaum erst am Ostersonnabend schmücken. Denn: Seit meinem sechsten Lebensjahr bin ich in der Woche vor Ostern beklommen. Ich muss in der Karwoche täglich daran denken, was Er an diesem Tag gerade macht: […] So geht das bis Karfreitag.“ Die heutigen Kinderbücher seien dagegen mit ihren Erzählungen sehr schnell beim Auferstandenen, beim Osterwunder, das man glauben könne oder auch nicht. Und wer daran glaube, dem gehe es gut damit, denn dann sei ja immer jemand da, der mitgeht. Sie selbst dagegen müsse bis heute mit dem Wechselbad der Woche vor Ostern klarkommen, so wie Er damals mit Seiner Todesangst und auch mit Seinem Vater und dessen Beschlüssen. Schon als Kind habe sie die Wut auf den Verräter gepackt und die Beschwichtigungen der Mutter, das sei doch alles nicht so gewesen, hätten sie nicht beruhigt – bis heute nicht. „Heute weiß ich“, schreibt sie: „In dieser Woche vor Ostersonntag passiert alles, was ich inzwischen vom Leben verstanden habe: Wie schnell sich das Schicksal für einen Menschen ändert, dass man verraten werden kann. Dass es immer unvermuteten Beistand gibt und einen Ausweg. An diese Hoffnung will ich erinnert werden. Einmal im Jahr.“

Also, liebe Geschwister im Glauben, Ostern ja – aber bitte nicht zu rasch. Diese Einsicht der Schriftstellerin mag ich persönlich gern unterstreichen. Endlich ist Ostern, aber der ganze mühsame Weg des Herrn und seiner Jünger ist wichtig, um diesen großartigen Tag als den Befreiungsschlag zum Leben annehmen zu können. Da lässt sich nichts überspringen. Nur so wird diese Nacht wahrhaftig zur Nacht der Unterscheidung und Entscheidung, wie es die Lesungen und Gesänge immer wieder anklingen lassen.
Die Bilder, die sie zeichnen, sind stark und kontrastreich: Tod und Leben, Sklaverei und Freiheit, Finsternis und Licht, Nacht und Tag, Meer und Land, männlich und weiblich, Erde und Himmel, Untreue und Treue. Und es ließen sich weitere finden. Das alles lässt sich klar voneinander abgrenzen. Da wird geschieden und unterschieden, und so geschieht, was Gott von jeher gewollt hat: Er rettet Jesus, seinen Sohn – und mit ihm alle, die ihm vertrauen – auf die sichere Seite. Der Schöpfer scheidet das Meer vom trockenen Land und schafft so Lebensraum für Menschen, Pflanzen und Tiere. Er erschafft sein Ebenbild in der einander ergänzenden Unterscheidung von Mann und Frau. Mit göttlicher Vollmacht scheidet Mose die Fluten des Roten Meeres; wie eine Wand stehen sie rechts und links und öffnen dem bedrängten Gottesvolk einen humanitären Korridor zur Freiheit; für die ungerechten Verfolger werden sie dagegen zur tödlichen Falle. Klare Alternativen bestechen. Die Bilder dieser Nacht zeigen Kontur. So wirken sie und ziehen uns mit hinein in die Bewegung einer rettenden, lebensbejahenden Unterscheidung.
Dabei wissen wir allzu gut: Oft sind es die Zwischentöne und Schattierungen, die Nuancen und Facetten, die Spielräume zwischen klaren Polen und Positionen, die die Wirklichkeit des Lebens in seiner Ambivalenz genauer abbilden – und dieses Leben irgendwie interessant machen. Grenzräume, in denen die Unterschiede eher verbindend als trennend wirken, können auf mich jedenfalls einen besonderen Reiz ausüben: die romantische Stimmung der Abenddämmerung; ein einzigartiger Sonnenaufgang; ein Ferientag an der Küste, wo sicherer Grund und unendlicher Horizont einander berühren. Und im Menschenleben sind es eigentlich die Übergangszeiten, Jugend und Alter, die gewiss anspruchsvoll, aber auch besonders spannend sind; menschliche Beziehungen in der Phase überschäumender Verliebtheit und viel später dann wieder in abgeklärter Vertrautheit, wenn alle möglichen Krisen und Klippen gemeinsam bestanden werden konnten. Solche Übergänge sind besonders kostbar. Da bewährt sich, was trägt und erfüllt.
Die Osternacht, liebe Gemeinde, ist nicht eine Zeit der sicheren Alternativen. Sie ist Übergang („Pascha“ – „Vorüberschreiten“) in der Grenzzone zwischen Tod und Leben, Finsternis und Licht. Und darum braucht es mehr Ausdauer als sonst in unseren Gottesdiensten. Die vielen Lesungen heute und die außergewöhnlichen Elemente der Liturgie lassen noch etwas davon erahnen, was die Christinnen und Christen der frühen Kirche taten: Sie durchwachten die ganze Nacht lesend, betend und singend, um keinen Augenblick dieses alles entscheidenden Übergangs zu verpassen. Die Nacht der Unterscheidung endet auch nicht in eindeutiger Gewissheit, nach dem Motto: „Jetzt muss es aber jeder klar und deutlich erkennen, zweifellos, der Herr ist auferstanden!“ Ganz im Gegenteil, die Osternacht lässt den Ausgang offen. Nicht Sicherheit, sondern Verwunderung ist der Impuls, der bleibt, wenn wir das Osterevangelium des Lukas hören: „Dann ging er [Petrus] nach Hause, voll Verwunderung über das, was geschehen war.“ (Lk 24,12)
Und deshalb ist diese besondere Nacht im Jahr auch eine Nacht der Entscheidung. Zuallererst für unseren Gott. Denn wir durften beim Propheten Jesaja hören, wie er sich hin- und hergerissen am Ende doch für die Treue zu seinem störrischen Volk entscheidet. „Kann man denn die Frau seiner Jugend verstoßen?, spricht dein Gott. Nur eine kleine Weile habe ich dich verlassen, doch mit großem Erbarmen werde ich dich sammeln.“ (Jes 54,6–7) In dieser Nacht ringt Gott mit aller Kraft darum, seinen geliebten Sohn aus den Fängen des Todes zu befreien. Gottes Treue obsiegt. Und der Tod muss Jesus freigeben, seine Niederlage macht ihn zum Gespött: „Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel?“ (1 Kor 15,55), fragt der Apostel Paulus.
Zuerst also Gott: Er hat sich in ewiger Liebe für seinen Sohn und für uns entschieden. Und dann sind wir gefragt. Bei der Tauferneuerung geht es um unsere Entscheidung: Willst Du mitgehen? Stellst Du Dich auf die Seite Gottes? Reicht Dir die Gewissheit in aller Ungewissheit? Kannst Du glauben, dass Jesus lebt – und dass Du mit ihm leben wirst?
Vom Aufstehen heißt der Erzählband von Helga Schubert; Miniaturen, wie eine Frau ihr Leben meistert. Geschichten vom Aufstehen sind Ostergeschichten. Sie erzählen realistisch von langwierigen, aufregenden, konfliktreichen, fröhlichen oder überraschenden Übergängen. Ich bin sicher, auch Sie werden viele zu erzählen wissen, Geschichten vom Aufstehen. Nur Mut, erzählen Sie!

 

Predigt
von Bischof Dr. Georg Bätzing,
Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz,
in der Eucharistiefeier in der Osternacht im Hohen Dom zu Limburg
am 16. April 2022
Lesungen: Gen 1–2, Ex 14–15, Jes 54, Röm 6,3–11
Evangelium: Lk 24,1–12

 

Deutsche Bischofskonferenz
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