Die einschränkenden Maßnahmen in der Corona-Krise haben viele Leben gerettet und vielen das Leben erschwert. Der Lockdown hat besonders den Alltag von Kindern und Jugendlichen drastisch verändert. Wie groß diese Belastung für junge Menschen war und ist und welche Auswirkungen diese Situation auf die kindliche Psyche hat, haben wir Kathrin Sevecke, Direktorin der Univ.-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Medizinischen Universität Innsbruck und Leiterin der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am LKH Hall, gefragt. Der Kontakt mit Freundinnen und Freunden, der soziale Austausch mit Gleichaltrigen und der regelmäßige Schulbesuch sind wichtige Elemente des kindlichen Alltags und der psychischen wie psychosozialen Gesundheit von jungen Menschen. „Ein längerer Ausschluss aus diesen Lern- und Erfahrungsräumen schädigt Kinder und Jugendliche in ihrer kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklung und hinterlässt Spuren, die schon jetzt sichtbar sind und sich auch für längere Zeit nach der Aufhebung der Restriktionen zeigen werden“, heißt es in einer aktuellen Stellungnahme der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie, deren Vizepräsidentin Kathrin Sevecke ist.
Frau Sevecke, wie belastend ist die Corona-Krise für Kinder und Jugendliche?
Die Auswirkungen auf Kinder und junge Menschen sind in jeder Hinsicht groß. Ihr Leben hat sich in kurzer Zeit stark verändert, weil die Alltagsstruktur weggefallen ist – einerseits für die Kinder und Jugendlichen selbst, andererseits für den Rest der Familie. Im familiären Umfeld ist folglich vieles durcheinandergeraten. Das Belastende war dabei weniger die reale Bedrohung durch das Virus, sondern das subjektive Bedrohungserleben der Kinder. Oft sind es sekundäre Folgen wie beispielsweise wirtschaftliche Probleme der Eltern, die Kinder bedrohen und besorgen. Ob und wie sehr Kinder eine Situation als belastend erleben, hängt stark davon ab, wie Bezugspersonen auf die Krise reagieren. Auf jeden Fall haben diese Sekundärfolgen die Kinder und Jugendlichen ganz schön in Anspruch genommen.
Was lässt sich aus Ihrer täglichen Arbeit berichten?
Wir sehen drei verschiedene Effekte bei Kindern: Es gibt eine kleine Gruppe, die vom Lockdown eher profitiert hat. Das sind jene, die in der Schule großen Leistungsdruck verspürt haben oder gemobbt wurden und sich nun zuhause entlastet fühlten. Dieser Profit ist allerdings nur kurzfristig, denn mit Schulbeginn wird der Druck größer als zuvor sein. Nachteilig wirkt sich die Krise vor allem auf jene Kinder aus, die durch den fehlenden Zugang zu Sozialen Medien die Anbindung an Schule und Unterricht verloren haben. Schließlich gibt es noch jene Kinder, die unter dem Wegfall der sicheren Schulumgebung besonders leiden, weil sie in hoch pathologischen familiären Strukturen leben. Wir haben in dieser Zeit viele akute Belastungssituationen und Notfälle aufgrund von familiären Auseinandersetzungen registriert. Besonders auffällig erscheint uns auch das vermehrte Konsumieren illegaler Substanzen bei jenen Jugendlichen, die schon vor der Krise Drogen konsumiert haben. Ein Grund könnte sein, dass den Jugendlichen mehr Zeit zur Verfügung stand, weil die Angebote von außen ganz einfach weggefallen sind. Auch das Internet und Soziale Medien wurden in dieser Zeit noch intensiver genutzt, allerdings liegen hier noch keine Zahlen vor. Andererseits zeigt sich der Mehrwert neuer Medien aber gerade auch in der Phase, in der der Zugang zu stationären und ambulanten Einrichtungen im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie beschränkt war.
Sie leiten eine Studie zu den psychosozialen Auswirkungen dieser Krise. Gibt es schon erste Erkenntnisse?
Die Studie läuft gerade erst an. Wir werden hier die Auswirkungen auf Kinder in den Hotspots von Nord- und Südtirol in Kindergärten, Volkschulen und Mittelschulen untersuchen. Dabei befragen wir die Eltern zum Verhalten und zur Symptomatik ihrer Kinder und zusätzlich Kinder ab dem achten Lebensjahr selbst. Gemeinsam mit BürgermeisterInnen, KindergartenpädagogIinnen und LehrerInnen erarbeiten wir in einer „Task Force“ offene Fragen für Eltern bezüglich ihrer Kinder, damit noch unbekannte Reaktionen der Kinder erfasst werden können. Daraus entwickeln wir schließlich ein Screening-Instrument zur Früherkennung von Belastungen. Wir möchten außerdem „Red-Flags“ (Alarmzeichen, Anm. d. Red.) in der Kinderheilkunde definieren, die bei derartigen Krisensituationen zum Einsatz kommen.
Welches Verhalten signalisiert, dass die Belastung zu groß wird?
Grundsätzlich sind Kinder und Jugendliche abhängiger von ihrem psychischen Umfeld als Erwachsene. Kinder und Jugendliche haben mehr Sorgen, wenn auch die Erwachsenen Sorgen haben, etwa wegen psychischer Erkrankungen, Jobverlust, Kurzarbeit oder finanziellen Schwierigkeiten. Wenn dann auch noch die schulischen Strukturen wegbrechen, wird das von Kindern und Jugendlichen sehr bedrohlich erlebt. Worauf wir immer schauen, das sind Ängste, Schlafstörungen, Zwangshandlungen, Antriebslosigkeit, Depressionen, also internalisierende Symptome; je nach psychischem Charakter kann die Problemverarbeitung auch nach außen gerichtet sein und sich in vermehrtem Drogenkonsum, ungezügeltem Internetgebrauch oder dem Nicht-Einhalten von Regeln äußern.
Inwieweit kann von Kindern und Jugendlichen Verantwortungsbewusstsein eingefordert werden?
Das ist natürlich in der Altersspanne von 0 – 18 Jahren sehr unterschiedlich. Kindergarten- und Volksschulkinder etwa orientieren sich an dem, was Eltern und ihre Bezugspersonen in Schule und Kindergarten vorleben. Der Bezugsradius von Jugendlichen ist viel größer; neben Familie und Schule existieren auch weitere Netzwerke, ihre Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit ist wesentlich größer. Ich bin der Meinung, dass Jugendliche schon rational dazu in der Lage sind, Vorschriften zu verstehen und sich an diese zu halten – ob sie es dann tun, ist wieder eine andere Frage.
Wie dramatisch sehen Sie das Szenario eines zweiten Lockdown?
Man hat Kindern und Jugendlichen in den vergangenen Wochen sehr viel abverlangt. Neben der Einschränkung der Sozialkontakte hing über ihnen auch das Damoklesschwert, möglicherweise ihre Großeltern anzustecken. Bedenken wir aber auch, dass wir von Normalität für Kinder und Jugendliche noch weit entfernt sind: Der Schulbetrieb ist noch immer eingeschränkt, psychisch stabilisierende Fächer wie Musik und Sport werden noch nicht abgehalten, die Betreuung in den Sommerferien ist noch nicht geregelt. Ein 17-Jähriger kann mit fehlenden Tagesstrukturen sicher besser umgehen, als ein Achtjähriger. Die Bewältigung dieser Herausforderungen hängt vor allem von familiären Rahmenbedingungen ab; gut situierte Familien werden diese Einschränkungen sicher weniger spüren als Kinder aus sozial schwachen Familien. Krisen treffen die sozial Schwachen immer stärker. Wir wissen, dass psychische Erkrankungen durch sozioökonomische Umstände mitbedingt werden. Wir werden auf individueller und familiärerer Ebene genau hinschauen, ob sich langfristig posttraumatische Belastungen bei Kindern und Jugendlichen zeigen oder sich bereits diagnostizierte Beschwerden verstärkt haben.
Auch die Österreichische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (ÖGKJP) spricht sich dafür aus, dass sowohl Schulen- und Kinderbetreuungseinrichtungen als auch medizinische-therapeutische Einrichtungen unter Einhaltung der vorgeschriebenen Hygienemaßnahmen in allen Regionen des Landes umgehend zu einem Vollbetrieb hochgefahren werden, um weiteren schweren Schaden an den Kindern und Familien abzuwenden.
Details zur Medizinischen Universität Innsbruck
Die Medizinische Universität Innsbruck mit ihren rund 2.000 MitarbeiterInnen und ca. 3.300 Studierenden ist gemeinsam mit der Universität Innsbruck die größte Bildungs- und Forschungseinrichtung in Westösterreich und versteht sich als Landesuniversität für Tirol, Vorarlberg, Südtirol und Liechtenstein. An der Medizinischen Universität Innsbruck werden folgende Studienrichtungen angeboten: Humanmedizin und Zahnmedizin als Grundlage einer akademischen medizinischen Ausbildung und das PhD-Studium (Doktorat) als postgraduale Vertiefung des wissenschaftlichen Arbeitens. An das Studium der Human- oder Zahnmedizin kann außerdem der berufsbegleitende Clinical PhD angeschlossen werden.
Seit Herbst 2011 bietet die Medizinische Universität Innsbruck exklusiv in Österreich das Bachelorstudium „Molekulare Medizin“ an. Ab dem Wintersemester 2014/15 kann als weiterführende Ausbildung das Masterstudium „Molekulare Medizin“ absolviert werden.
Die Medizinische Universität Innsbruck ist in zahlreiche internationale Bildungs- und Forschungsprogramme sowie Netzwerke eingebunden. Schwerpunkte der Forschung liegen in den Bereichen Onkologie, Neurowissenschaften, Genetik, Epigenetik und Genomik sowie Infektiologie, Immunologie & Organ- und Gewebeersatz. Die wissenschaftliche Forschung an der Medizinischen Universität Innsbruck ist im hochkompetitiven Bereich der Forschungsförderung sowohl national auch international sehr erfolgreich.
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