"Politik muss Wort halten. Eine neue Regierung kann nicht einfach Beschlüsse ihrer Vorgängerregierung – hier zur Mindestlohnkommission – desavouieren. Tarifpolitik darf nicht Spielball der Politik werden. Dann entscheiden Theoretiker über Löhne, und die Fachleute von Verbänden und Gewerkschaften werden kaltgestellt", so ZDH-Präsident Hans Peter Wollseifer im Interview mit Michael Rothe von der "Sächsischen Zeitung".
Corona, neue Regierung, Mindestlohn, Strukturwandel, ... Die Spitzen der Wirtschaft hecheln derzeit von Mikrofon zu Mikrofon.
Ja, es wird nicht langweilig.
In dieser Woche hat Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck neuen Diskussionsstoff geliefert. Er will beim Ausbau von Windkraft und Solarenergie den Turbo zünden.
Vor Weihnachten hatte ich schon die Gelegenheit zum Gespräch. Da konnte ich die Themen mit ihm erörtern und die Unterstützung des Handwerks zusagen.
Ein Wirtschaftsminister von den Grünen ist für Sie also kein Hindernis?
Handwerk ist nicht parteipolitisch festgelegt. Einen Vertrauensvorschuss bekommt auch die neue Regierung. Allerdings brauchen wir mehr Anerkennung, Förderung und auch ganz konkrete Unterstützung etwa für die berufliche Bildung als dem Schlüssel zur Fachkräftesicherung, um das ganze Potenzial des Handwerks für den Klimaschutz auch einbringen zu können. Das ist schon jetzt nicht wenig. Immerhin ist das Handwerk bei Klimaschutz, Energiewende- und -effizienz bereits in 30 Gewerken mit rund 400.000 Betrieben und 2,5 Millionen Beschäftigten unterwegs.
Stolze Zahlen ...
... ja, aber immer noch viel zu wenig, wenn die hohen Ziele erreicht werden sollen. Wir müssen beim Klimaschutz umdenken, Ökonomie und Ökologie zusammenführen. Und wir brauchen dafür noch deutlich mehr qualifizierte Fachkräfte. Die zu gewinnen, dafür tun wir als Handwerk seit Jahren sehr viel, aber das muss auch die Politik künftig noch stärker unterstützen. Die berufliche Ausbildung zu stärken, das fordern wir gebetsmühlenartig schon seit Jahren.
Was braucht es konkret?
Die Politik muss die berufliche Ausbildung – auch finanziell – gleichwertig zum akademischen Bereich wertschätzen und fördern. Es braucht eine verstärkte Berufsorientierung über die Karriere- und Berufsmöglichkeiten im Handwerk - gerade auch an Gymnasien. Wir müssen uns um qualifizierte Fachkräfte aus dem Ausland kümmern. Doch es gibt noch immer erhebliche Wartezeiten bei der Visaerteilung – vor allem in den Balkanstaaten. Jetzt ist es an Außenministerin Annalena Baerbock, das zu ändern und bald die Westbalkanregelung zu entfristen, wie im Koalitionsvertrag vorgesehen. Darauf wartet vor allem das Baugewerbe, das nach Regierungswillen 400.000 Wohnungen bauen soll.
Zugereiste allein werden die Personallücke sicher nicht schließen.
Sicherlich nicht, denn über das an sich gute Fachkräfteeinwanderungsgesetz werden wir nur einige Tausend Leute pro Jahr gewinnen können. Europa ist kein großer Fundus mehr. Unsere Nachbarn müssen nicht mehr nach Deutschland kommen, um ihre Euros zu verdienen. Daher müssen wir zuerst schauen, welches Potenzial wir im eigenen Land haben. Denn das Potenzial ist da.
Aber ...
…bei uns ist in den letzten Jahrzehnten etwas in die Schieflage geraten, weil nur die akademische Bildung gehypt wurde. Die berufliche Bildung galt als zweitrangig. Heute wissen wir, dass das mit Abi und Studium verbundene Aufstiegsversprechen längst nicht mehr gehalten werden kann. Schauen Sie sich die vielen Akademiker in prekären Arbeitsverhältnissen an. Um nicht arbeitslos zu sein, nehmen sie Jobs an, die nicht ihrer Qualifikation entsprechen. Andererseits brauchen alle Zukunftsprojekte beruflich qualifizierte Fachleute. Damit das wieder in ein richtiges Verhältnis kommt, ist eine generelle Bildungsumkehr nötig. Wenn 55 Prozent der jungen Leute studieren, ist das unausgewogen. Allein im Handwerk finden sich jedes Jahr für fast 20.000 angebotene Ausbildungsplätze keine Lehrlinge. Dabei suchen unsere Betriebe derzeit geschätzt rund 250.000 Fachkräfte, die sie sofort einstellen könnten.
Welche Rolle spielt dabei das Entgelt? Viele Arbeitgeber kritisieren den angedachten Mindestlohn von zwölf Euro.
Unsere Kritik waren nie die anfangs 8,50 oder jetzt zwölf Euro, denn wir haben Branchen-Mindestlöhne im Handwerk, die höher sind.
Was beanstanden Sie dann?
Politik muss Wort halten. Eine neue Regierung kann nicht einfach Beschlüsse ihrer Vorgängerregierung – hier zur Mindestlohnkommission – desavouieren. Dann laufen wir Gefahr, dass das alle vier Jahre passiert. Tarifpolitik darf nicht Spielball der Politik werden. Dann entscheiden Theoretiker über Löhne, und die Fachleute von Verbänden und Gewerkschaften werden kaltgestellt. Das wäre ein staatlich verordneter Lohn.
Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger will deshalb vor das Bundesverfassungsgericht ziehen. Schließen Sie sich an?
Es liegt nahe, prüfen zu lassen, ob das Vorgehen verfassungsgemäß ist. Wir haben eine klare Meinung: Die Mindestlohnkommission soll frei von politischer Einflussnahme ihre Arbeit machen. Man kann die zwölf Euro Mindestlohn durchaus anpeilen, aber die Mindestlohnkommission muss einbezogen werden, geschlossene Tarifverträge immer Bestand haben. Und bei den geplanten 12 Euro sollte der Fahrplan gestreckt werden.
Tarifparteien sollten sich um – meist höhere – Tariflöhne kümmern. Beim Mindestlohn geht es jedoch um eine Lohnuntergrenze. Warum sollte die nicht die Politik festlegen dürfen?
Weil das keine politische Aufgabe ist, sondern eine der Sozialpartner von Gewerkschaften und Verbänden. Die Sozialpartner kennen die Situation in der jeweiligen Branche und Region und können so einen vernünftigen Interessenausgleich aushandeln. Dieses sozialpartnerschaftliche System hat sich gerade im Handwerk bewährt. Dass es funktioniert, zeigen doch die jüngste Tarifeinigung im Bauhauptgewerbe oder die zahlreichen Branchenmindestlöhne.
Gewerkschafter sagen, die Arbeitgeber seien durch die Flucht aus den Innungen selbst schuld. Ohne Tarifpartner sei keine Tarifautonomie durchzusetzen.
Da lassen die Gewerkschaften aber außen vor, dass sie selbst auch längst nicht mehr so gut für Tarifverhandlungen aufgestellt sind, weil auch sie viele Mitglieder verlieren und massive Probleme haben, Tarifverhandlungen zu führen.
Das macht es nicht besser und spricht eher für die politische Intervention.
Wenn man Dinge bewegen will, muss man sich bemühen, die Tarifbindung zu erhöhen. Dafür stehen wir auch. Ich habe gegenüber Gewerkschaftsvertretern viele Angebote gemacht, dafür gemeinsam öffentlich einzutreten.
Haben Sie einen Lösungsvorschlag?
Beide Seiten sind gefragt, die Tarifbindung zu erhöhen. Im überwiegend kleinstrukturierten Handwerk könnte dazu sicher beitragen, wenn etwa die Gewerkschaften Tarifverträge so gestalten, dass sie für kleine und mittlere Betriebe auch machbar sind. Thyssen-Krupp mit weltweit zigtausend Beschäftigten und den Elektrobetrieb vor Ort mit zehn Leuten kann man nicht über einen Kamm scheren. Da sind die Tarifverträge oft nicht flexibel genug. Und dann gibt es ja noch das Instrument der Allgemeinverbindlichkeit, um Probleme zu lösen.
Wie lange werden Materialmangel und Preisexplosion noch das Handwerk und seine Kunden in Atem halten?
Die Lage insgesamt hat sich glücklicherweise etwas entspannt. Eine Reihe von Baumaterialien ist wieder besser verfügbar, etwa Holz. Bis zum Frühsommer wird das Problem zwar noch nicht erledigt, aber nicht mehr so drastisch sein. Allerdings dürfte es bei Chips für Elektro und im Autobau noch länger angespannt bleiben. Und was die Preise betrifft: Die werden wohl kaum wieder auf das 2019er-Niveau zurückkehren, sondern sich darüber einpendeln. Darauf müssen sich Häuslebauer und öffentliche Hand einstellen.
Wie kann sich Handwerk in Strukturwandel und Klimaschutz einbringen?
Nun, es sind vor allem Handwerkerinnen und Handwerker, die die Klimaschutzmaßnahmen aus dem Koalitionsvertrag umsetzen: Aufbau, Montage und Wartung von Windrädern, Ladesäulen, Solarpaneelen, Wärmepumpen, Fassadendämmung, Fenster, Türen und mehr. Also keine Frage, das füllt auch die Auftragsbücher. Das vorgezogene Ausstiegsdatum aus der Kohle halte ich für sehr ambitioniert. War mal das Jahr 2038 im Fokus, ist jetzt von 2030 die Rede. Damit das gelingt, müsste man die Strukturförderung massiv beschleunigen. Derzeit ist da die Handbremse noch eher angezogen. Zudem konzentriert man sich beim Strukturwandelprozess viel zu sehr auf die Industrie. Ich sag immer: Beton wird nur fest, wenn die Körnung stimmt. Wir brauchen in Sachsen sicher die großen Leuchttürme, aber eben auch die mittleren und kleinen Betriebe. Die richtige Mischung macht‘s. Man sollte erst mal den ersten vor dem zweiten Schritt gehen: Ehe man zeitliche Ziele fixiert, sollte man wissen, wie man es macht. Dann geht es vermutlich auch schneller.
Schneller als Tempo 30, das Entscheidern vielerorts vorschwebt?
Gegen Tempo 30 ist eigentlich erst einmal nichts zu sagen. Der Fokus in den letzten Jahrzehnten, die Städte vornehmlich autogerecht herzurichten, passt einfach nicht mehr zu den Bedürfnissen der Menschen, noch zum Volumen des Autoverkehrs. Aber wir dürfen jetzt auch nicht gleich ins andere Extrem verfallen: Komplett autofreie Städte sind nicht die Lösung. Das Handwerk muss weiter - wie Feuerwehr und Handel - die Möglichkeit haben, Kundinnen und Kunden anzufahren, vor Ort zu parken und zu laden. Und sie müssen auch für ihre Kundschaft erreichbar bleiben.
Null Bewegung gibt es indes beim Bürokratieabbau, trotz dreier „Entlastungsgesetze“ und bei der Einkommenssteuerreform inklusive kalter Progression.
Wir bekommen hier vor allem Versprechen, aber es passiert zu wenig. Viele Betriebsinhaber berichten uns, dass 40 bis 60 Prozent ihrer Arbeitszeit für Melde-, Aufbewahrungs- und Dokumentationspflichten draufgeht. Aber Handwerker wollen beim Kunden und in ihren Werkstätten arbeiten. Immerhin steht das Thema im Koalitionsvertrag. Papier ist bekanntlich geduldig. Hier darf das aber nicht der Fall sein, sondern die neue Regierung muss Ernst machen.
Soforthilfe, Überbrückungshilfe 1, 2, 3, 3 plus,... Wie weit müssen wir zählen?
Einmal den Bau- und Ausbaubereich weitgehend ausgenommen, haben viele unserer Betriebe und Gewerke in der Coronakrise gelitten – vor allem Messebau, Lebensmittel- und Gesundheitshandwerke, dienstleistungsnahe Gewerke wie Friseure und Kosmetiker, aber auch Industriezulieferer, Feinwerkmechaniker. Schon jetzt ist absehbar, dass die Pandemie am 31. März nicht vorüber ist. Es wird weiter Überbrückungshilfen und Kurzarbeitergeld brauchen.
Gerade in Sachsens Handwerk herrscht große Impfskepsis. Laut einer Dresdner Kammer-Umfrage wollte sich nur jeder elfte Betriebsinhaber impfen lassen.
In meinem Kölner Handwerkskammerbezirk gab es einen tragischen Fall: Ein Betriebsinhaber, 46, Frau, drei Kinder, nicht geimpft, starb Heiligabend an Corona. Das macht mich traurig und wütend zugleich. Denn das müsste ja nicht sein. Es gibt ja die Impfmöglichkeit. Man sollte sich wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht verschließen und sich, seine Familie, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Kundinnen und Kunden schützen. Gesundheitsschutz ist auch Arbeitsplatz- und Betriebsschutz. Ich appelliere daher an alle, sich impfen zu lassen.
Appell oder ein Plädoyer für Pflicht?
Ich habe lange geschwankt, weil die im Grundgesetz verankerte körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung ein sehr hohes Gut ist. Andererseits aber gefährdet man andere, die dieses Recht ebenso haben. Da sich meine Hoffnung nicht erfüllt hat, dass sich mehr Leute impfen lassen, bin ich nicht mehr gegen eine Impfpflicht. Bei einer Impfquote von 90 Prozent wäre meine Antwort eine andere.
Ihre Amtszeit läuft zum Jahresende aus. Sorgen Sie sich angesichts schwindender Betriebszahlen um Ihr Erbe?
Ich bin seit 1976 selbstständig. Mir ist um das Handwerk nicht bange, denn es war, ist und bleibt unverzichtbar. Wir im Handwerk sind die Schnellboote der Wirtschaft. Wir können uns zeitnah ein- und umstellen. Es mag zwar weniger Betriebe geben, dafür aber mehr größere Betriebe. Grundsätzlich haben Handwerkerinnen und Handwerker gerade derzeit fantastische Möglichkeiten. Die Aufträge werden nicht ausgehen: sei es für Brillen, Hörakustik, Orthopädie, für gesunde Ernährung, sei es am Bau und beim Ausbau, bei SmartHome, Erneuerbaren Energien und beim Klimaschutz oder auch, wenn es um Besonderes geht, etwa bei Goldschmieden und Maßschneidern. Wenn ich die Bühne verlasse, wird es also ganz sicher weitergehen.
Können Sie loslassen?
Sehr gut. Ich werde abtrainieren, nach und nach Funktionen abgeben und mich dann nur noch in Teilbereichen engagieren. Meiner Frau habe ich versprochen, dass wieder mehr eigenes Leben möglich sein wird.
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