Lesungen: Jes 52–53, Hebr 4–5 Evangelium: Joh 18–19 - Zwei Wochen ist es her, dass Papst Franziskus Menschen aus aller Welt zu einer Stunde des Gebets in dieser schwierigen Zeit einlud. Die Worte, die der Papst in seiner Ansprache fand, die schlichten Gesten vor dem Marienbild und einem gotischen Kreuz, die Stille während der Anbetung des Allerheiligsten und schließlich der Segen des Papstes über die Stadt Rom und den ganzen Erdkreis– untermalt vom Glockengeläut und vom Martinshorn der Hilfsdienste – waren tief bewegend. Viele von denen, die über die Medien teilnehmen konnten, werden diese einzigartige Atmosphäre nicht so schnell vergessen.
Bald darauf setzte eine Diskussion ein, die ich nicht nur merkwürdig, sondern geradezu ärgerlich fand. Das sogenannte „Pestkreuz“, das für diese Feierstunde aus der römischen Kirche „San Marcello al Corso“ zum Petersplatz gebracht worden war, habe durch den starken Regen Schaden genommen. Ein echter „Aufreger“ für Stunden und Tage; etliche Meldungen wert. Tatsächlich war das Kreuz aus dem 14. oder 15. Jahrhundert während der Zeremonie dem Dauerregen ausgesetzt. Nun wurde gefragt, wer dafür verantwortlich sei und wer für die Schäden an diesem kostbaren Kulturgut aufkomme. Im Jahr 1522 soll eine Prozession mit dem Kruzifix zum Ende einer Pestepidemie in Rom geführt haben. Seither wird die Darstellung als wundertätig verehrt. Ob sich wohl bei dieser Prozession damals in extremer Krisenzeit ein Mensch die Frage gestellt hat, ob das Kreuz Schaden nehmen könnte? Ich glaube nicht.
Ähnlich seltsam hat mich Anfang Februar eine Diskussion um den berühmten Genter Altar der Brüder Jan und Hubert van Eyck berührt. Nach umfangreichen Restaurierungsarbeiten ist der Altar derzeit im Museum zu sehen. Das Mittelbild des unteren Teils zeigt die Verehrung des Lammes, wie sie in der Offenbarung des Johannes beschrieben wird (vgl. Offb 7,9–10). Über Wochen belustigten sich Menschen in den sozialen Medien über ein Detail der Restaurierung, nämlich das Lamm in der Mitte der Szene, das mit seinen menschlichen Gesichtszügen irritiert. So sieht kein Lamm aus. Die Augen sind ja die eines Menschen. Sie liegen nicht seitlich am Kopf wie bei einem Fluchttier, sondern nach vorne gerichtet, genau auf den Betrachter zu. „Das menschliche Glotzen der Lämmer“, so titelte ein Zeitungsbeitrag, der sich mit der Welle der Empörung kritisch auseinandersetzte (vgl. www.faz.net). Wenn so die Restaurierung des Originals aussehe, dann wäre vielen die Übermalung aus späteren Zeiten sinnvoller erschienen, die das Tier anatomisch korrekt aussehen ließ. War der große Künstler des 15. Jahrhunderts ein Dilettant? Konnte er nicht einmal ein Schaf darstellen? Twitter-Nutzer gerieten außer Fassung, so eine bizarre Darstellung sei doch seltsam und furchteinflößend. Wie weit, liebe Schwestern und Brüder, ist diese oberflächliche Betrachtung weg von der Wahrnehmung, die der Künstler getreu dem biblischen Vorbild vermittelt hat? Dieses Lamm steht für einen Menschen. Dieses Lamm schaut mich an mit seinem durchdringenden Blick. Dieses Lamm meint mich … Gotteslamm, Herr Jesus Christ.
Beide Szenen zeigen nur, wie verschieden man Dinge und Situationen deuten kann. Religiöses Kulturgut wird in einer säkularisierten Welt zunehmend inhaltsarm, was die Botschaft angeht, aber als kostbar betrachtet, was das Kunstschaffen betrifft. Wer versteht heute die Worte des Propheten Jesaja vom Gottesknecht, den er mit einem Opferlamm vergleicht, das man zum Schlachten führt? Wer begreift den religiösen „Mehr-wert“ der mit reichlich Gold und Perlen kostbar gefassten Kreuzreliquie, die wir gleich in dieser Feier verehren? Texte und Kunst der biblisch-christlichen Tradition sind als Kulturgut heute allen Menschen zugänglich, aber nicht allen sind sie auch Glaubensgut, das innerlich trifft und die Seele berührt.
Wer glaubt, dem stellt sich die Frage nicht, ob ein Kreuz „benutzt“ werden darf, auch wenn es einmal im Regen steht. Denn, weil das Kreuz damals auf Golgota in übelster Art und Weise benutzt wurde, um Jesus zu töten, um vermeintlich das Problem dieses Aufrührers aus der Welt zu schaffen, darum ist es so kostbar: Glaubenssymbol schlechthin für Christinnen und Christen; ein Heilmittel, das aufrichtet und Trost schenkt. Das Kreuz unseres Herrn will gebraucht werden und Gebrauchsspuren annehmen. Nur so ist es wirksam. Der uralte Kreuzhymnus, den wir später singen werden, stellt Vergleiche an: Heiliges Kreuz, du bist wie eine sichere Leiter, wie eine starke Brücke, wie ein Pilgerstab, wie der Himmelsschlüssel. Was sollen Leiter, Brücke, Pilgerstab und Schlüssel, wenn sie unberührt bleiben, wenn niemand sie nutzt? Vielleicht bewahren Sie zu Hause in der Familie auch so ein Kreuz auf, das mit der Zeit Macken bekommen hat, speckig geworden ist vom Anfassen, die Farbe eingetrübt? Deutlicher kann die Einladung nicht sein, dass wir uns selbst dem Kreuz nähern, es berühren und verehren und beladen mit unseren Nöten, unserer Unruhe, unserer Einsicht in Schuld und Versagen. Mit all dem gehören wir unter das Kreuz. Und das Kreuz unseres Herrn steht in Wind und Wetter dieser schweren Zeiten und hält es aus, hält uns aus, hält uns.
Deshalb, liebe Schwestern und Brüder, versammeln wir jetzt in den großen Fürbitten Menschen aller Lebenslagen, jeden Glaubens, ja, alle Welt unter dem Kreuz. Da haben wir Platz. Da gehören wir hin. Da ist heute gut sein. Herr, wunderbar erweise deine Huld. Du rettest, die sich an deiner Rechten bergen. Behüte uns alle wie den Augapfel, den Stern des Auges, birg uns im Schatten deiner Flügel (vgl. Ps 17,7–8). Amen.
Predigt von Bischof Dr. Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, in der Karfreitagsliturgie im Hohen Dom zu Limburg am 10. April 2020
Deutsche Bischofskonferenz
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Liturgie vom Leiden und Sterben Jesu Christi
Petersdom-Papst Franziskus feiert die Liturgie vom Leiden und Sterben Jesu Christi
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