Handwerk ist Mittelstand par excellence. - ZDH-Präsident Hans Peter Wollseifer im Interview mit der Schwäbischen Zeitung. Herr Wollseifer, wie läuft es beim deutschen Handwerk? Das Handwerk ist hervorragend ins Jahr 2017 gestartet: Das erste Quartal 2017 war das erfolgreichste seit der deutschen Einheit. Beim Umsatz, der Geschäftslage und Beschäftigung und - was besonders erfreulich ist - auch bei den Investitionen liegen die Zahlen deutlich über den Ergebnissen der Vorjahre.
Wie wichtig ist das Handwerk für die deutsche Wirtschaft?
Das Handwerk ist Mittelstand par excellence. Abgesehen von der volkswirtschaftlichen Bedeutung übernehmen wir gesellschaftspolitische Verantwortung und sind der Dienstleister und Versorger der Nation. In allen Regionen sichern Handwerksbetriebe Ausbildung und Beschäftigung. So leisten sie einen wichtigen Beitrag zum Wohlstand Deutschlands, stabilisieren die Wirtschaft und fördern maßgeblich den Zusammenhalt in der Gesellschaft.
Geht es allen Branchen gut oder gibt es auch welche, die Probleme haben?
Besonders gut läuft es bei den Bau- und Ausbaugewerken, mittlerweile aber auch wieder im Kraftfahrzeughandwerk. Auf dem Bau gibt es Auftragsreichweiten von mehr als zehn Wochen. Und obwohl die Betriebe bereits an ihren Kapazitätsgrenzen arbeiten, brauchen unsere Kunden derzeit schon etwas Geduld. Ein großes Problem ist, dass uns die Fachkräfte und Lehrlinge fehlen, um alles bewältigen zu können.
Warum fehlt dem Handwerk der Nachwuchs?
In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Schulabgänger pro Jahr deutlich zurückgegangen. Inzwischen gibt es einen harten Wettbewerb um junge, engagierte Leute. Das Streben nach immer höheren Bildungsabschlüssen hat außerdem dazu geführt, dass sich der Ausbildungsmarkt grundlegend verändert hat. Heute beginnen rund 60 Prozent eines Jahrgangs ein Studium, noch vor zehn Jahren starteten so viele eine duale Ausbildung. Da kann man schon fragen, ob das nicht am Arbeitsmarkt vorbei geht.
Kann das Handwerk denn die Bevölkerung noch versorgen, wenn so viele Facharbeiter fehlen?
Die Versorgung ist gewährleistet: Die Verbraucher finden zurzeit noch genügend Betriebe in allen Regionen, um Arbeiten in Auftrag zu geben. Wegen der prall gefüllten Auftragsbücher kann es allerdings zu Wartezeiten kommen, und mitunter ist schon ein bisschen Geduld gefragt.
Vor allem das Lebensmittelhandwerk hat Probleme: Warum will keiner mehr Bäcker oder Metzger werden?
Bei den Fleischern bleibt fast jeder dritte Ausbildungsplatz unbesetzt, bei den Bäckern ist es jeder vierte. Uns bereitet das natürlich Sorgen, weil dadurch später die Fachkräfte fehlen. In den Lebensmittelhandwerken produzieren wir eine sehr hohe Qualität. Das können wir nicht mit Angelernten machen, da brauchen wir Fachkräfte. Deshalb ist es so wichtig, mehr junge Leute zu überzeugen, dass es in diesen Berufen tolle Möglichkeiten gibt, sich zu verwirklichen und auch gutes Geld zu verdienen.
Verdient man denn im Handwerk gutes Geld? Ist es nicht so, dass viele Lehrlinge nach der Lehre von der Industrie mit höheren Löhnen abgeworben werden?
Andere Wirtschaftsgruppen haben unsere gut ausgebildeten jungen Leute immer sehr gerne übernommen. Gerade dort, wo die Autoindustrie sitzt, werden teils Löhne angeboten, die höher sind als die, die ein kleinerer Handwerksbetrieb zahlen kann. Da hat die Industrie sicherlich andere Möglichkeiten. Das heißt aber nicht, dass man nicht auch im Handwerk gut verdienen kann.
Die Digitalisierung verändert nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Wirtschaft. Wie ist das Handwerk betroffen?
Die Digitalisierung hat das Handwerk längst erreicht. 95 Prozent unserer Handwerksbetriebe haben eine eigene Webseite. 58 Prozent der Handwerksbetriebe setzen auch auf Softwarelösungen, um ihre betrieblichen Abläufe zu steuern. Und jeder vierte Betrieb nutzt die moderne Technologie für die Produktion. In jeder Branche gibt es Beispiele: Selbst Bäcker und Metzger produzieren mit digital gesteuerten Maschinen.
Im digitalen Haus der Zukunft ist alles vernetzt, der Hausbesitzer steuert Heizung, Kühlschrank, Fenster, Türschloss, Fernseher und Licht digital mit seinem Handy. Wen ruft man an, wenn man ein solches Haus haben will? Den Heizungsbauer, den Maurer, den Elektroinstallateur?
Dass auf einer Baustelle mehrere Gewerke zusammenarbeiten, das ist für das Handwerk Alltag und wird meines Erachtens auch so bleiben. Das Produktportfolio wird sich vergrößern. Der eine oder andere Handwerker wird möglicherweise noch stärker gewerkeübergreifend tätig werden, sofern er dafür die Qualifikation hat. Aber auch künftig wird es wohl so sein, dass man den Heizungsbauer anruft, wenn man eine Heizung fernsteuern will.
Das Auto verändert sich sehr schnell. Schon bald könnte ein großer Teil der Fahrzeuge elektrisch und autonom fahren. Reagiert das Kfz-Handwerk angemessen auf diese Veränderungen oder gehört das Gewerk zu den großen Realitätsverweigern? Wird das Auto in Zukunft vom Elektroinstallateur repariert?
Von Realitätsverweigerung kann gar keine Rede sein. Die Kfz-Betriebe stellen sich auf die Veränderungen ein. Der Beruf des Kfz-Mechatronikers wird sich weiter ändern, aber seine Berechtigung behalten. Weder autonomes Fahren noch Elektromobilität werden das Kfz-Handwerk überflüssig machen.
Der SPD-Kanzlerkandidat hat einen Teil der Agenda 2010 zur Disposition gestellt. Im Rahmen dieser Reform ist 2004 auch die Handwerksordnung reformiert worden. Hat sich diese Neuordnung bewährt?
Aus Sicht des Handwerks ganz klar nein. Die Änderungen in der Handwerksordnung haben beispielsweise dazu geführt, dass die Zahl der Solo-Selbstständigen enorm gestiegen ist. Tausende haben sich selbstständig gemacht und mussten dafür keinerlei Qualifikation vorweisen. Denn bei den zulassungsfreien Gewerken kann jeder, der sich anmeldet, das Handwerk ausüben und einen Betrieb führen. Der Kunde hat das Nachsehen: Es fehlt einfach das Qualitätsversprechen, für das der Meister steht. Das kratzt an unserem Image.
Wie stehen diese Betriebe ohne Meisterpflicht wirtschaftlich da?
Viele Solo-Selbstständige können es sich aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation nicht leisten, ausreichend für den Krankheitsfall oder das Alter vorzusorgen. Das fällt dann aber irgendwann der Allgemeinheit auf die Füße: Wenn sich tausende Solo-Selbstständige nicht altersversichern, werden sie später staatliche Unterstützung benötigen.
Das Handwerk hat im Gegensatz zu anderen Wirtschaftsbereichen sein Versprechen gehalten, eine große Anzahl von Flüchtlingen in die Betriebe zu integrieren. Was war Ihre Motivation?
Da sind Menschen aus Kriegsgebieten gekommen und haben Schutz gesucht. Wir als Handwerk sehen uns nicht als reine Wirtschafts-, sondern auch als tragende Gesellschaftsgruppe. Aus diesem Selbstverständnis heraus haben wir es als humanitäre Verpflichtung angesehen, hier zu helfen.
Wie viele Flüchtlinge hat das Handwerk untergebracht?
Im Jahr 2016 lernten knapp 4600 junge Leute aus den acht häufigsten Asylzugangsländern im Handwerk, ein Zuwachs von über 2900 Personen binnen drei Jahren. Etliche weitere Tausend junge Menschen mit Bleibeperspektive befinden sich in Praktika, in Ausbildungsvorbereitungskursen oder Berufsorientierungsmaßnahmen. Die ersten, die vor ein paar Jahren gekommen sind, sind mittlerweile auch schon Facharbeiter. Das ist auch gut so. Flüchtlinge sollen ja nicht von den Sozialsystemen leben müssen, sondern sollen sich einbringen, arbeiten und ihren Beitrag zu unseren Sozialsystemen leisten. Der überwiegende Teil will das übrigens auch.
Das Handwerk, wie Sie es beschreiben, hilft, das Gemeinwesen zusammenzuhalten. Wie erklären Sie sich dann die Verunsicherung, und die Angst in Zeiten, in denen es sehr vielen Menschen sehr gut geht?
Es ist ein gutes Deutschland, in dem wir zurzeit leben. Aber gerade weil es uns so gut geht, steigen die Verlustängste. Ich bin überzeugt, das beste Mittel dagegen sind Qualifizierung und Bildung. Gut ausgebildete, gut qualifizierte junge Leute, ob im Handwerk oder in anderen Bereichen, bekommen gute Jobs und haben vernünftige Einkommen. Das stabilisiert die Familien und die Gesellschaft. Jeder Einzelne tritt dann selbstsicherer auf. Das verringert auch die Gefahr, Besserwissern und Schlechtrednern hinterherzulaufen.
Erschienen am 24. Mai 2017 in der Schwäbischen Zeitung. Das Interview führte Benjamin Wagener.
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