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Weihnachten umspannt die Welt. Es ist ein sehr beliebtes Fest, darüber sind sich die Menschen in Europa und überall dort, wo der christliche Glaube die Kultur mitgeprägt hat, einig. Doch die Ansichten, worum es an diesem Tag eigentlich geht, die sind mittlerweile so vielfältig wie die Lebensstile und Weltanschauungen. Wenn ich in einer Suchmaschine den Satzanfang eingebe: „Weihnachten, Fest der …”, dann bekomme ich folgende Liste: Liebe, Hoffnung, Nächstenliebe, Begegnung, Familie, Dankbarkeit, Geschenke. Ja, das alles ist Weihnachten auch, dagegen ist nichts einzuwenden. Der eigentliche Anlass unseres Feiern's ist aber die Geburt Jesu Christi. Würden wir dieses Gedenken nicht ununterbrochen seit den Tagen Kaiser Konstantins im 4. Jahrhundert begehen, es gäbe die festlichen Tage am Ende des Jahres nicht – und damit auch nicht das reiche Brauchtum an Bildwerken, Musik und Literatur, nicht den Weihnachtsschmuck in unseren Häusern, die Krippendarstellungen, die regionalen Rezepte und Gerichte und viele Traditionen darüber hinaus. Mit allen, die heute feiern – auch, wenn sie sich nicht zu Christus als Herrn bekennen, wollen wir den Ursprung dieses Festes nicht vergessen; denn darin hüten wir einen Kern, der für alle Menschen wertvoll sein kann und es gerade heute verdient, erinnert zu werden.

Weihnachten, um was geht es da eigentlich? Das Tagesgebet im Weihnachtshochamt schlägt einen überraschenden Ton an, denn da wird behauptet: Es geht um die Menschenwürde – von Gott wunderbar geschaffen und noch wunderbarer wiederhergestellt. Und das hat seinen Grund in der Geburt des Gottessohnes, der ein Mensch wie wir geworden ist. Weihnachten ist mithin das Fest der Menschenwürde. Darum betrifft es auch jeden Menschen. Gleich kommen mir Bilder in den Sinn, die dieses Jahr geprägt haben: In Bergamo werden Särge auf Militärtransportern zum stillen Begräbnis auf umliegende Friedhöfe gefahren. Solche Szenen in einem Nachbarland habe ich noch nie ansehen müssen, und sie haben ein tiefes Erschrecken in mir hinterlassen. Corona und seine lebensbedrohliche Ausbreitung berührt die Würde, auch, weil die Pandemie international die Diskrepanz der Lebensverhältnisse und Überlebenschancen von Menschen verschärft; sie ist neben den unabsehbaren Auswirkungen des Klimawandels wohl die größte humanitäre Krise weltweit seit vielen Jahrzehnten.


Im Spätsommer brennt auf Lesbos das Lager Moria: eine Verzweiflungstat Geflüchteter, die hier unter unwürdigen Bedingungen zusammengepfercht ohne Aussicht auf Veränderung leben. Damit flackert ein Thema auf, das für Europa wahrlich eine Schande ist, denn wir finden nicht zu einer gemeinsamen Asylpolitik als einzig richtige Antwort auf die weltweite Migration. Wer von uns weiß, welche Bedingungen jetzt zu Weihnachten im Lager Moria herrschen? Wer erinnert sich, dass auf den Kanarischen Inseln weitere Hotspots entstanden sind? Die Scheinwerfer öffentlicher Aufmerksamkeit sind seit Monaten so sehr auf die Entwicklung und die Eindämmung der Pandemie gerichtet, dass das Flüchtlingsdrama inmitten der freien und wohlhabenden Welt wieder im Schatten liegt.
Menschenwürde: Hanau, Nizza, Paris, Koshobe in Nigeria, Kabul, Wien, zuletzt Trier, diese Orte stehen für grausame Bluttaten, die Menschen Würde und Leben raubten. Und wir erleben wie gebannt, dass fremdenfeindliche, antisemitische, islamistische, rechts- und linksextreme Gewalt weltweit zunimmt; dass Minderheiten wie die Rohingya in Myanmar oder die Uiguren in China und vielerorts Christinnen und Christen wegen ihres Bekenntnisses bedroht, vertrieben und ermordet werden.


Menschenwürde: Hierzulande hat der Stress der Kontakt- und Bewegungsbeschränkungen die häusliche Gewalt ansteigen lassen; Frauen und Kinder werden gedemütigt und geschlagen.
Pädokriminelle Verbrechen wie der Missbrauchskomplex von Münster offenbaren ein Ausmaß des Grauens, das sogar erfahrene Ermittler schockiert. Der Missbrauch in der Kirche ist so lange nicht Vergangenheit, wie Betroffene körperlich und seelisch davon schwer gezeichnet unter uns leben und sich selbst als „Überlebende“ bezeichnen. Sexueller Gewalt als weit verbreitetem Phänomen in unserer Gesellschaft wagen wir noch gar nicht ernsthaft ins Auge zu blicken. Menschenwürde wird in vielfältiger Weise verletzt, und die betroffenen Menschen brauchen Gehör und Aufmerksamkeit, gerade auch die, die sich niemals selbst Gehör verschaffen können, weil sie bereits vor ihrer Geburt getötet wurden und das Licht der Welt nie erblicken durften.


Wie treffend ist es da, wenn heute ein neugeborenes Kind als Garant der Menschenwürde im Mittelpunkt steht. Nachvollziehen können wir das freilich nur im Spannungsbogen eines großen Zusammenhangs, in den uns die Lesungen dieser Messe mitnehmen. Wir hörten, Gott kehre als König zurück, um die in Trümmern liegende Stadt wieder aufzubauen und Rettung und Frieden zu bringen. Schon die Nachricht davon lässt Freude aufkommen, sie tröstet und richtet auf (Jes 52). Weihnachten ist der Tag Christi, der Christtag am Ende der Zeiten, an dem der Sohn Gottes sein Erbe antritt, wie es die Propheten lange versprochen haben (Hebr 1). Er beansprucht diese Welt für sich, um zu hüten und fruchtbar zu bebauen, was Gott einst dem ersten Adam anvertraut hatte. Weihnachten ist die Geburt des neuen Adam. Da werden wir Menschen wieder in die ursprüngliche Würde unserer Gottebenbildlichkeit eingesetzt. In und mit unseren Grenzen sollen wir frei und schöpferisch leben dürfen, großzügig schenken und noch großzügiger verzeihen, jeder Form der Ausgrenzung wehren und Gemeinschaft stiften, uns aneinander freuen und füreinander sorgen. Das alles macht den Menschen menschlich – und würdig, wahrhaft Gottes Ebenbild zu sein.


Die verletzte Menschenwürde wiederherzustellen, wie es dem Gottes- und Menschensohn Jesus Christus aufgetragen war, das bedeutet allerdings auch Kampf gegen Widerstände in der Welt. Daran erinnert der Johannesprolog (Joh 1) inmitten aller Festtagsstimmung. Das Licht leuchtet in der Finsternis. Das heißt konkret auch: Dieses Licht deckt auf; es bringt die Schande zu Tage, die Bosheit finsterer Mächte, die Sünde, die sich ihre eigenen Begründungen zurechtlegt. Sie gibt sich nicht einfach geschlagen. Sie bäumt sich auf und schlägt zurück. Wer die Wahrheit bezeugt wie Jesus, wer Gottes Namen ausspricht und seinen Anspruch auf die Herzen der Menschen benennt, dem droht das Geschick der Propheten. Das wahre Licht kam, aber die Welt erkannte es nicht. Mit der Geburt Jesu setzt sich das Drama des Ringens Gottes um Einfluss in seiner Welt fort, ja, es verschärft sich. Zunehmend wird Jesus im Laufe seines Lebens ins Zentrum dieses Dramas geraten. Denn Menschen wehren sich mit Händen und Füßen dagegen, Gottes Angebot anzunehmen, von innen her heil zu werden, mündig und fähig, der Güte und Barmherzigkeit Gottes entsprechend zu leben. Auch das ist Teil der Realität des Evangeliums in der Geschichte.


Weihnachten ist das Fest der Menschenwürde für alle Gotteskinder dieser Erde. Aber diese Würde wird nur groß, wenn wir dem Licht der Welt die Chance geben, auch die Dunkelheiten in uns selbst auszuleuchten. Nur dann werden wir anderen bezeugen können: Jesus ist das wahre Licht, das in die Welt gekommen ist. Was der Johannesprolog nur verhalten beleuchtet, das stellt ein Wort der hl. Mutter Teresa (1910–1997) umso deutlicher heraus. Was hat es den Sohn Gottes eigentlich gekostet, auf diese Erde zu kommen? Was hat er alles aufgegeben, um uns aus Trümmern aufzuheben? Sie schrieb, lange bevor sie weltbekannt war: „Wenn ich jemals eine Heilige werde, dann gewiss eine ‚Heilige der Dunkelheit‘. Ich werde fortwährend im Himmel fehlen, um für jene ein Licht zu entzünden, die auf Erden in Dunkelheit leben.“ Diese Frau hat begriffen, was Jesus für uns getan hat. Durch Menschen wie sie wird Weihnachten zum Fest der Menschenwürde.
Jes 52, 7–10
Hebr 1,1–6
Joh 1,1–18

Predigt
von Bischof Dr. Georg Bätzing,
Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz,
in der Eucharistiefeier am Weihnachtstag – Hochfest der Geburt des Herrn
im Hohen Dom zu Limburg
am 25. Dezember 2020

Deutsche Bischofskonferenz
Kaiserstraße 161, D - 53113 Bonn