"In Deutschland droht ein Reformstau“ - Ist die GroKo noch zu retten? Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer äußert sich im Interview besorgt über den Zustand der Koalition. Er warnt vor einem Reformstau in Deutschland, bürokatischen Vorgaben aus Brüssel und steigenden Sozialabgaben. - Herr Wollseifer, die GroKo ist kaum 100 Tage im Amt und steht doch bereits am Abgrund. Wie bewerten Sie die jüngsten Entwicklungen? Die GroKo hatte einen echten Rumpel-Start. Es gibt eine zum Teil rüpelhafte Art des Umgangs, besonders zwischen CDU und CSU. Das vermittelt alles andere als Aufbruchstimmung. Deutschland braucht Stabilität, Planbarkeit und tragfähige Kompromisse. - Ist die GroKo denn noch zu retten?
Wir sehen im Moment einen fahrlässigen Konfrontationskurs. Das kann die GroKo sprengen und zu Neuwahlen führen mit jetzt noch gar nicht abschätzbaren Folgen für Gesellschaft und Wirtschaft in Deutschland wie in Europa. Die Beteiligten müssen endlich Verantwortung zeigen und einen Regierungsbruch vermeiden.
Wird das Flüchtlingsthema in seiner Bedeutung manchmal überschätzt?
Die Flüchtlingszahlen heute sind wesentlich geringer als 2015. Es ist immer noch ein wichtiges Thema, ob und wie wir diese Menschen aufnehmen und integrieren. Aber es sind Fragen, für die man Lösungen finden kann, und die sicherlich nicht den Bruch der Regierung rechtfertigen. Dieser Asylstreit verhindert, dass andere große Aufgaben angepackt werden. Ich denke da besonders an den Ausbau der analogen wie digitalen Infrastruktur und an eine Reform unserer Sozialversicherungssysteme, so dass diese generationengerecht und vor allem für unsere Betriebe in der Zukunft tragbar sind. Es droht ein Reformstau in Deutschland.
Halten Sie Europa noch für handlungsfähig?
Wir machen uns große Sorgen. Europa schlecht zu reden und auf nationale Alleingänge zu setzen, ist nicht der richtige Weg. Europäische Lösungen werden mehr denn je gebraucht. Aber dabei brauchen wir Maß und Mitte. Es kann nicht sein, dass versucht wird, immer mehr Macht in Brüssel zu konzentrieren. Die Kommission kümmert sich zuviel um Detailfragen, verliert dabei manchmal das große Ganze aus dem Blick. Wenn die Kommission sich mit Dingen beschäftigt, die den Menschen im Alltag keine Verbesserungen, sondern im Gegenteil immer neue, teils unnötige Bürokratie bringen, dann muss man sich nicht wundern, dass sich die Menschen nicht mehr mit Europa identifizieren. Das kann und darf so nicht bleiben, denn es birgt zu viel Sprengkraft für das Gesamtprojekt Europäische Union.
Seit gut einem Monat gilt die neue EU-Datenschutzgrundverordnung. Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Unsere Betriebe haben unter hohem Zeitdruck und mit großem Aufwand die neuen Datenschutzregeln umgesetzt. Sicherlich müssen sie an dem einen oder anderen Punkt noch nachsteuern. Zurzeit geht es darum zu verhindern, dass das alles über Abmahnmissbrauch zur Kostenfalle für unsere Betriebe wird.
Wie wichtig wäre ein Gesetz gegen Abmahnmissbrauch?
Es muss schnell gehandelt werden. Es gibt Kanzleien und Vereine, die versuchen, den kleinen Handwerker um die Ecke schon wegen des kleinsten Datenschutz-Formfehlers mit teuren Abmahnungen zu überziehen. Das ist Wegelagerei. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass mit zweierlei Maß gemessen wird: Für Google oder Amazon, für die Schufa und andere Auskunfteien wird beim Datenschutz ein Auge zugedrückt, für uns nicht.
Wochenlang warten, bis der Handwerker kommt, ist inzwischen keine Seltenheit mehr. Geht es dem Handwerk einfach zu gut?
Die Nachfrage ist hoch, die Zinsen sind niedrig. Deshalb sind unsere Auftragsbücher sehr voll. Leider können wir nicht immer alles so schnell abarbeiten, wie wir und unsere Kunden das wünschen. Wir verzeichnen zwar deutliche Umsatzzuwächse, aber wichtig ist natürlich, was den Betrieben unterm Strich bleibt. Das Rad, das man drehen muss, um den gleichen Gewinn zu erwirtschaften, wird immer größer.
Es fehlen inzwischen eine Viertelmillion Handwerker. Wer ist schuld daran?
Noch 2006 haben sich zwei Drittel der Jugendlichen für eine berufliche Ausbildung entschieden. Heute ist es umgekehrt: Zwei Drittel gehen an die Uni. Das ist die Folge einer irreleitenden Debatte, in der es immer wieder hieß, dass der Akademisierungsgrad in Deutschland zu gering sei. Das war kurzsichtig und hat die Balance zwischen akademisch und beruflich Qualifizierten in unserem Land aus dem Lot gebracht. Ein Meister ist genauso viel wert wie ein Master. Diese Wertschätzung in Gesellschaft und Politik braucht es wieder.
Was hat die Misere mit dem Zustand von Deutschlands Berufsschulen zu tun?
Über Jahrzehnte hinweg ist zu wenig Geld in die berufliche Bildung investiert worden, in die Universitäten dagegen schon. Der Zustand unserer Berufsschulen ist alarmierend. Es wird immer die Gleichwertigkeit der beruflichen Bildung beschworen. Aber dann muss auch mal Geld in die Hand genommen werden, um sie herzustellen.
Was erwarten Sie konkret von der GroKo?
Im Koalitionsvertrag wurde angekündigt, die berufliche Bildung zu stärken. Im Bundeshaushalt finden sich bislang aber keine zusätzlichen Mittel für Berufsschulen und überbetriebliche Bildungsstätten. Das ist erschreckend.
Wieviel Geld wäre notwendig?
Es muss einfach mal die Lücke geschlossen werden. Für die Begabtenförderung bekommen die Unternehmen in Deutschland 50 Millionen Euro im Jahr, die Universitäten 265 Millionen Euro. Für Hochschulpakt und Exzellenzförderung gibt der Bund jährlich rund 2,3 Milliarden Euro, Vergleichbares fehlt im Bereich berufliche Bildung gänzlich.
Wird das Handwerk verstärkt um Studienabbrecher werben?
In den nächsten Jahren werden für rund 200.000 Handwerksbetriebe Nachfolger gesucht. Wir brauchen deshalb jeden. Und wir werben auch um alle. Ich plädiere dafür, in technischen Studiengängen zunächst mit einem Praxissemester zu beginnen, in dem mögliche Karrierewege aufgezeigt werden. Da würden bestimmt einige feststellen, dass für sie die berufspraktische Ausbildung der richtige Weg ist - und müssten nicht erst die schmerzliche Erfahrung eines Studienabbruchs machen.
Der gesetzliche Mindestlohn steigt um acht Prozent in zwei Schritten - welche Auswirkungen wird das im Handwerk haben?
In einigen Bereichen betrifft der Mindestlohn das Handwerk durchaus. Anders als in der Industrie haben wir im Handwerk Lohnanteil von teils deutlich über 80 Prozent. Jeder Euro, der durch den Mindestlohn oben draufkommt, ist für unsere Betriebe natürlich belastend. Man darf nicht vergessen, dass wir bei den Steuern schon seit langem vergeblich auf Entlastungen warten, und gleichzeitig drohen die Sozialbeiträge durch die Decke zu gehen.
Auf die Betriebe kommen besonders für Gesundheit und Pflege steigende Beiträge zu. Lässt sich das jetzt im Aufschwung nicht stemmen?
Irgendwann ist unsere Belastungsgrenze auch mal erreicht. Allein die Rückkehr zur Parität bei den Krankenkassenbeiträgen kostet das Handwerk eine Milliarde Euro jährlich. Hinzu kommen höhere Lasten für die Pflege und dazu noch die teure Mütterrente II. All das wird nicht aus dem Steuertopf bezahlt, obwohl es gesamtgesellschaftliche Aufgaben sind, sondern aus Beiträgen. So geht das nicht weiter. Es muss dafür gesorgt werden, dass sich Arbeit und Leistung im Handwerk lohnen.
Von Rasmus Buchsteiner/RND - foto:zdh