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Herr Wollseifer, warum ist für die Wirtschaft plötzlich eine Unternehmenssteuerreform so enorm wichtig?  - Wollseifer: Die Koalition hat diese Legislaturperiode und auch die letzte vor allem damit zugebracht, soziale Wohltaten an bestimmte Klientelgruppen zu verteilen. Deshalb sollte sie jetzt mal an die denken, die das Ganze erwirtschaften. Die sich von morgens früh bis abends spät mühen müssen, damit der Staat überhaupt die Einnahmen erzielt, die er überall verteilt. Die Leistungsträger müssen endlich wieder in den Fokus rücken, das sind besonders die mittelständischen Betriebe – davon viele im Handwerk - mit ihren Beschäftigten. - Was stellen Sie sich konkret als Reform vor? Wollseifer: Die Unternehmenssteuer ist im Handwerk regelmäßig die Einkommensteuer, weil mehr als 80 Prozent der Betriebe Personengesellschaften oder Einzelunternehmer sind. Den Spitzensteuersatz müssen heute schon mein Meister und manche Handwerksgesellen bezahlen. Die Schwelle, ab der der Spitzensatz greift, muss deutlich angehoben werden, die derzeitigen 56.000 Euro Jahreseinkommen sind deutlich zu niedrig.

Muss diese Reform noch in dieser Wahlperiode kommen?
Wollseifer: Wollseifer Das muss zwingend in diesem Jahr auf den Weg gebracht werden. Denn spätestens ab 2021 haben sich die steuerlichen Wettbewerbsbedingungen in Europa so verändert, dass wir Europameister bei den Firmensteuern sind. Viele Länder wie Großbritannien und Frankreich haben ihre Steuern gesenkt.
 
Soll es eine Netto-Entlastung der Firmen geben?
Wollseifer: Die Belastungen der Leistungsträger mit Steuern und Sozialabgaben sind insgesamt zu hoch. Das betrifft heute ja nicht nur Betriebe, sondern auch die Mitarbeiter. Natürlich wollen wir eine Entlastung bei den Steuern und gleichzeitig keinen weiteren Anstieg bei den Sozialabgaben. Netto muss endlich mehr im Portemonnaie bleiben.
 
Angesichts der demografischen Entwicklung ist es doch unrealistisch, dass  Renten- oder Krankenversicherungsbeiträge in Zukunft nicht steigen.
Wollseifer: Wir brauchen bei den Sozialversicherungen tatsächlich einen Befreiungsschlag. Das gesamte Sozialsystem muss auf neue und vor allem stabile Beine gestellt werden. Gesamtgesellschaftliche Aufgaben müssen auch gesamtgesellschaftlich finanziert werden, also aus Steuern, nicht aus Beiträgen. Die rund 20 Milliarden Euro für versicherungsfremde Leistungen  - wie beispielsweise die Mitversicherung von Familienmitgliedern in der gesetzlichen Krankenversicherung - sollte künftig tatsächlich die Gesellschaft insgesamt schultern. Das muss aus Steuermitteln bezahlt werden.  
 
Wollen Sie die herbeizaubern?
Wollseifer: Nein. Aber es kann nicht sein, dass vor allem der Produktionsfaktor Lohn mit Beiträgen belastet wird, um die Sozialsysteme zu finanzieren. Die Finanzierungsbasis muss deutlich breiter werden. Wir brauchen eine auf OECD-Ebene abgestimmte Besteuerung der Digitalwirtschaft. Und in der EU muss endlich der Umsatzsteuerbetrug an den Grenzen wirksam bekämpft werden. Hier gehen jedes Jahr hohe Milliardenbeträge verloren.   
 
Wie passt das zusammen: Sie wollen einerseits eine Netto-Entlastung der Betriebe und andererseits die Umfinanzierung versicherungsfremder Leistungen aus Steuermitteln?
Wollseifer: Wenn wir die Mehrwertsteuerverluste an der Grenze stoppen könnten, dann wären wir schon einen großen Schritt weiter und könnten die versicherungsfremden Leistungen umfinanzieren.
 
Die SPD will den Soli-Abbau auf die Jahresmitte vorziehen. Da müssten Sie ja eigentlich applaudieren, oder?
Wollseifer: Schön wär’s. Der Soli muss weg und zwar sofort und für alle. Im Handwerk werden rund 120.000 Betriebe ab 2021 nur teilentlastet oder gar nicht entlastet, weil sie über der Verdienstschwelle von 74.000 Euro liegen und damit schon zu der Gruppe von Steuerzahlern gehören, für die die Koalition den Soli nicht abschaffen will. Wir widersprechen Minister Scholz ganz eindeutig: Das sind keine Einkommensmillionäre, die den Soli weiterzahlen sollen, das sind ganz normale Leistungsträger.  
 
Aber viele im Handwerk werden vom Soli-Abbau profitieren. Warum wollen Sie da die Unternehmenssteuerreform noch oben drauf haben?
Wollseifer: Weil der Soli immer schon oben drauf war. Auch ohne den Soli sind wir künftig immer noch Steuer-Europameister und Vizeweltmeister bei den Gesamtabgaben hinter Belgien.
 
Die Koalition hat bekräftigt, dass sie die Grundrente im Jahr 2021 wie geplant einführen will. Wie bewerten Sie das?
Wollseifer: Wir lehnen das jetzt vorliegende Grundrentenkonzept mit allem Nachdruck ab. Das beginnt schon damit, dass die Finanzierung auf völlig tönernen Füßen steht. Denn die Mittel sollen aus der geplanten Finanztransaktionssteuer kommen, bei der zurzeit noch völlig ungewiss ist, ob sie eingeführt wird. Aber noch entscheidender: Damit würde das Grundprinzip der Rentenversicherung auf den Kopf gestellt, wonach sich die Höhe der Rente nach der Höhe der Einzahlungen bemisst. Es schafft neue Ungerechtigkeiten, weil gleich hohe Beträge künftig zu ganz unterschiedlichen Rentenleistungen führen können. Ich befürchte, eine solche Grundrente würde die Akzeptanz der gesetzlichen Rentenversicherung weiter mindern.  
 
Welche Gefahr besteht durch diese Ungerechtigkeit?
Wollseifer: Es ist gefährlich, von dem allseits akzeptierten Äquivalenzprinzip in der Rentenversicherung abzugehen. Denn Menschen werden sich zunehmend überlegen, wie sie mit möglichst geringen Beiträgen eine von allen bezahlte Grundrente erhalten können. Vielfach erleben wir ja schon eine Flucht aus der Beitragspflicht. Weil viele Solo-Selbstständige keine Renten- oder Krankenbeiträge zahlen, können sie ihre Leistungen um 20, 30 Prozent günstiger am Markt anbieten. Das verzerrt den Wettbewerb und fällt uns nachher als Gesellschaft auf die Füße, wenn der Steuerzahler für eine vernünftige Altersabsicherung dieser Selbstständigen sorgen muss. Deshalb fordern wir, für Selbstständige verbindlich eine Altersvorsorgepflicht einzuführen. Dazu muss endlich ein entsprechender Gesetzentwurf auf den Weg gebracht werden.  
 
Im März tritt das Fachkräfteeinwanderungsgesetz in Kraft. Was erhoffen Sie sich davon?
Wollseifer: Es ist ein kleiner, aber wichtiger Mosaikstein auf dem Weg zu mehr Fachkräften aus Drittstaaten. Die Fachkräftelücke können wir damit aber sicher nicht komplett schließen. Anfangs wird es vermutlich noch nicht die ganz große Anzahl an Menschen sein, die nach Deutschland kommen. Um den akuten Fachkräftemangel zu bekämpfen, müssen wir zusätzlich alle inländischen Potenziale erschließen: mehr Langzeitarbeitslose in den ersten Arbeitsmarkt bekommen und für Frauen, die arbeiten möchten, bessere Bedingungen etwa bei Kitas und Ganztagsschulen schaffen.   
 
Die allermeisten Jugendlichen wollen Abitur machen und studieren. Was bedeutet das für das Handwerk?
Wollseifer: Zunächst einmal, dass uns in unseren Betrieben die Fachkräfte fehlen. Doch viel einschneidender sind die Folgen, die ich für unsere Gesellschaft und Wirtschaft insgesamt sehe. Wenn dieser Akademisierungsdrang weiter so anhält, dann droht eine Unterversorgung mit handwerklichen Leistungen. Dann gibt’s irgendwann keine Bäcker mehr und keine Dachdecker, Maler, E-Handwerker, Zahntechniker oder Friseure. Das fängt in ländlichen Gebieten an. Dort fallen dann Arbeitsplätze weg, es gibt keine Ausbildung mehr, die Orte veröden.
 
Wie wollen Sie hier eine Trendwende hinbekommen?
Wollseifer: Es muss auch aufhören, dass die akademische Bildung mehr Förderung bekommt als die berufliche Bildung. Es muss aufhören, dass der Staat Universitäten mehr Geld gibt, wenn sie hohe Einschreibezahlen haben. Dadurch wird ein schädlicher Wettbewerb zwischen dem Handwerk und den Unis um die jungen Leute angeheizt. Und was ist die Folge, gesellschaftlich und für die jungen Menschen? Am Ende haben wir ein Heer an prekären Akademikern. Die werden nicht alle die Jobs mit höheren Einkommen bekommen, die sie sich erträumen. Ein selbstständiger Handwerksmeister dagegen kann heute schon auf Chefarzt-Niveau verdienen.  Das muss man den jungen Leuten ganz klar sagen, vielleicht denken sie dann um.

ZDH-Präsident Hans Peter Wollseifer sprach mit Birgit Marschall von der "Rheinischen Post" über die Grundrente und fordert Entlastungen bei Steuern und Abgaben für mittelständische Betriebe. Die freigegebene Fassung des Interviews lesen Sie hier.

 

Zentralverband des Deutschen Handwerks e. V. (ZDH)
Mohrenstraße 20/21
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