Architektenkammer Baden-Württemberg zur Einfamilienhausdebatte - zur aktuellen Diskussion über das Thema Einfamilienhaus ein Statement von Markus Müller, Präsident der Architektenkammer Baden-Württemberg: „Das Einfamilienhaus ist für 60 Prozent der Deutschen noch immer der Traum. Die Lösung des Wohnraum-Problems in Baden-Württemberg ist dieser Traum jedoch nicht. Erstens, weil es davon schon sehr viele gibt. Zweitens, weil Einfamilienhaussiedlungen für eine alternde Gesellschaft sozial, kommunikativ und versorgungstechnisch eine große Herausforderung bedeuten. Drittens, weil sie schlicht zu viel Bauland je Einwohner verbrauchen, das ohnehin sehr knapp ist. Das Gebot der Stunde heißt deshalb nicht noch mehr Fläche zu verbauen, sondern die vorhandene Bausubstanz in den Ortslagen kreativ zu nutzen, neue Anreize zu schaffen für Tausch statt Neubau, für nachbarschaftsfreundliche Dichte statt Zersiedelung. So müsste aus unserer Sicht ein räumliches Leitbild für das ganze Land aussehen.“
Die Architektenkammer Baden-Württemberg hat sich zu diesem Themenkomplex in den Wahlprüfsteinen www.akbw.de/wahlpruefsteine2021.pdf zur Landtagswahl 2021 am 14. März positioniert, ausgearbeitet von Expertinnen und Experten in den Strategiegruppen.
Gegen die Ausweisung immer neuer Einfamilienhausgebiete – im ländlichen Raum ebenso wie im städtischen Bereich – spricht :
• Im ländlichen Raum verstärken immer neue Baugebietsausweisungen den Donut-Effekt in den Gemeinden (nach außen wachsen und innen aushöhlen)
• Neubaugebiete sind kein probates Mittel zur Behebung des Wohnraummangels
• Neubaugebiete haben oft keine kritische Mindestgröße, um rentabel Daseinsvorsorge anbieten zu können
• Neubaugebiete widersprechen dem sparsamen Umgang mit der wertvollen Ressource Boden
• Neubaugebiete verursachen zusätzliche Verkehrsströme und Versorgungsanbindungen (Wasser/Strom/Kabel etc.) für vergleichsweise wenige Menschen
Nähe als Form der Nachhaltigkeit – Boden ist nicht vermehrbar, zunehmende Flächenversiegelung bedroht Natur und Lebensraum. Doch Flächenverbrauch und Zersiedelung steigen weiterhin, gerade außerhalb der Verdichtungsräume. Wollen wir eine lebendige Umwelt bewahren, brauchen wir ein viel größeres Bewusstsein für das Thema. Wir brauchen Anreize für das Schaffen angemessener baulicher Dichte mit Qualität. Wir brauchen Anforderungen an regionale Dichtewerte, an eine zukunftsfähige Mischung aus Wohnen und Arbeiten für eine vielfältige Gesellschaft. Wir brauchen Förderungen und Forderungen für eine lebens-werte Gestaltung unserer Lebens- und Landschaftsräume – und dies in Stadt und Land. Die gegenwärtig anhaltende Zersiedelung ist historisch betrachtet ein Phänomen der Moderne. Gewachsene Städte sind kompakt gebaut, ohne dass dies zwangsläufig zu Einbußen der Lebensqualität geführt hat. Die nach wie vor große Beliebtheit gründerzeitlicher Quartiere zeugt davon. Der Umgestaltung der Städte nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs hin zur autogerechten Stadt hat dazu geführt, dass sich Planungsmaßnahmen im Wesentlichen dem ungehinderten Verkehrsfluss motorisierten Individualverkehrs unterordneten. Begleitet wurde dies mit starren Flächenzuweisungen und einer Nutzungstrennung. Dabei wurden teils erhebliche Eingriffe in erhal-tene – und aus heutiger Sicht schützenswerte – Bausubstanz vorgenommen und Stadtteile willkür-lich durch überdimensionierte Verkehrsachsen zerschnitten. Auch der ländliche Raum ist historisch geprägt durch kompakte Siedlungskörper, Nähe zu den Produktionsflächen und nutzungsgemischte Gebäudetypologien.Dennoch wird „Dichte“ als Reizwort wahrgenommen, insbesondere im ländlichen Raum. Dabei ist gerade dort eine zu dünne Besiedlung Ursache vieler Probleme. Beispielsweise benötigen Infra-und Nahversorgungsstrukturen eine kritische Masse an Nachfrage, um rentabel wirtschaften zu können. Wo diese Nachfrage-Mindestschwelle nicht erreicht wird, veröden historisch gewachsene – und teilweise sehr dicht bebaute – Ortskerne, während der Einzelhandel in außerhalb liegenden Gewerbegebieten konzentriert wird und am Ortsrand Einfamilienhaussiedlungen dominieren. Die-ses ungünstige Phänomen beschreibt der sogenannte Donut-Effekt. Dennoch konzentrieren sich gerade ländliche Gemeinden auf die Ausweisung von Einfamilienhausgebieten als einzige Sied-lungsform. Dazu nutzen sie nicht selten das Instrument des beschleunigten Verfahrens nach § 13b des BauGB. Der Zweck dieses Verfahrens und die Ziele der Bauleitplanung werden dabei dreifach
4 hintergangen: Meist besteht kein erheblicher Wohnraumbedarf, es erfüllt nicht die Anforderung an einen sparsamen Umgang mit Boden und berücksichtigt nicht den gebotenen Vorrang der Innent-wicklung.Schon aus infrastruktureller und demografischer Sicht macht es Sinn, wenn einzelne Quartiere sich selbst tragen können und von sich aus genügend Angebote für Wohnen, Arbeiten, Nahversorgung, soziale Infrastruktur, Kultur und Erholung bieten.Somit ist sowohl für die Städte als auch den ländlichen Raum dichtes Bauen ein zentrales Thema. Innenentwicklung, Mitte und Bestand durch qualifizierte Nachverdichtung sind entscheidend. Dabei sagen Dichtekennzahlen allein nichts über Qualität aus (vgl. die erwähnte Beliebtheit von sehr dichten Gründerzeitquartieren und Altstädten). Dichte braucht also Qualität und Nutzungsmischung sowie gute Infrastruktur und verkehrliche Anbindung (ÖPNV). Es ist kontraproduktiv, dass dichter bebaubare Grundstücke teurer sind. Denkbar wäre ein Modell, das eine höhere Dichte belohnt. Es besteht ein Grundproblem darin, dass die wirtschaftlichen Vorteile einer dichten Bebauung durch die Förderung weniger dichter Räume nivelliert werden, z.B. durch die Pendlerpauschale oder die öffentliche Förderung digitaler Infrastruktur im ländlichen Raum.
Den vollständigen Wortlaut finden Sie in unseren Wahlprüfsteinen www.akbw.de/wahlpruefsteine2021.pdf.
Architektenkammer Baden-Württemberg
Danneckerstraße 54, 70182 Stuttgart