Die Präsidenten der ostdeutschen Handwerkskammern fordern gleiche Lebensverhältnisse in Ost und West. Bei ihrem Treffen in der Universitäts- und Hansestadt Greifswald verabschiedeten die Ehrenamtsträger eine entsprechende Resolution. Die Präsidenten der ostdeutschen Handwerkskammern trafen sich am 16. und 17. August 2019 turnusgemäß zu einem handwerkspolitischen Austausch in der Universitäts- und Hansestadt Greifswald. Präsident Axel Hochschild von der gastgebenden Handwerkskammer Ostmecklenburg-Vorpommern (HWK) begrüßte dazu die Präsidentenkollegen aus den Ländern Brandenburg, MecklenburgVorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.
Ein Ergebnis des Präsidententreffens ist eine Resolution, mit der die Ehrenamtsträger des Handwerks u.a. die Förderung strukturschwacher Regionen in Ostdeutschland auch ab 2020, die Stärkung des ländlichen Raums sowie zügige Investitionen in die Mobilität, Verkehrsstrukturen und in die Digitalisierung fordern. Die Präsidenten forderten die Einführung von Azubi-Tickets für die zeit- und kostenintensiven Fahrten zu den zentrierten Berufsschulen – wie sie es einige Bundesländern bereits vormachen. „Der Fachkräftemangel belastet vor allem die Wirtschaft in den östlichen Bundesländern aufgrund der Abwanderungen junger Menschen und der demografischen Entwicklung“, so Präsident Axel Hochschild. Während in Westdeutschland seit den 90er Jahren die Zahl der Auszubildenden um 12 Prozent zurückging, habe sich die in den östlichen Ländern halbiert.
Nach wie vor haben zudem 93 Prozent der Großkonzerne und das Gros des industriellen Mittelstandes ihren Firmensitz in Westdeutschland, wo dann auch zum größten Teil die Gewerbesteuern bleiben. Da in den neuen Bundesländern rund Dreiviertel der Handwerksbetriebe nach der Wende gegründet worden seien, sei der fehlende fachliche Nachwuchs vor allem auch mit Blick auf die Unternehmensnachfolge ein handwerkpolitscher Schwerpunkt in den nächsten Jahren, so die Präsidenten der Handwerkskammern.
Während dieses Treffens hielt Christian Hirte, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie und Beauftragter der Bundesregierung für Mittelstand und die neuen Bundesländer, einen Impulsvortrag zum Thema “Gleichwertige Lebensverhältnisse in Deutschland – Wie geht es weiter nach dem Auslaufen des Solidarpaktes II Ende 2019?“. Er betonte, dass „Ostdeutschland auch künftig darauf bauen könne, dass die Bundesregierung beim wirtschaftlichen Aufholprozess unterstützt. Die in unserem neuen gesamtdeutschen Fördersystem vorgesehenen Investitionen in Zukunftsfelder mit einem Schwerpunkt auf Forschung, Innovationen und Digitalisierung werden hier die richtigen Impulse setzen. Wir blicken nicht mehr allein auf die Himmelsrichtung, aber es ist klar, dass in den neuen Bundesländern weiter ein Schwerpunkt dieser Hilfen liegen wird.“
Resolution der Präsidenten der Ostdeutschen Handwerkskammern
Für gleiche Lebensverhältnisse in Ost und West
Ostdeutschland befindet sich 30 Jahre nach der friedlichen Revolution in einem fortdauernden Prozess des Strukturwandels. Es gibt ermutigende Beispiele, die zeigen, dass eine aktive Wirtschafts- und Ansiedlungspolitik flankiert von staatlicher Förderung sowie dem Ausbau der Infrastruktur zu innovativen industriellen Wachstumskernen in Ostdeutschland geführt haben. Vor allem Regionen in Sachsen und Thüringen sowie der Ballungsraum Berlin profitieren.
Die Konzentration wirtschaftlicher Aktivitäten auf die attraktiven Großstädte und deren Umland hat zulasten vieler peripherer ländlicher Räume zugenommen, insbesondere in Ostdeutschland. In diesen Regionen zeigt sich trotz sinkender Arbeitslosigkeit eine gleichzeitig sinkende Erwerbstätigenzahl mit Auswirkungen auf die Entwicklungschancen. So haben sich die Länder- und Kommunalfinanzen nicht so positiv entwickelt wie im westlichen Teil Deutschlands, wo 93 Prozent der Großkonzerne und große Teile des industriellen Mittelstandes ihren Firmensitz haben. Demgegenüber stehen vor allem die Braunkohleregionen sowie die grenznahen Gebiete Ostdeutschlands vor einer Generationenaufgabe des strukturellen Wandels. Er ist zu bewältigen vor dem Hintergrund einer Neuausrichtung der EU-Strukturfonds sowie des Auslaufens des Solidarpaktes II.
Die Wirtschaftskraft (BIP je Einwohner) erreichte 2017 im Osten des Landes nur 73,2 Prozent des westdeutschen Niveaus und verbleibt damit weitgehend auf dem Vorjahresniveau. In den letzten zehn Jahren haben sich die Unterschiede um 4,2 Prozentpunkte verringert. 1992 hatte die unabhängige Föderalismuskommission von Bundestag und Bundesrat festgelegt, dass neue Bundeseinrichtungen und Behörden grundsätzlich im Osten Deutschlands angesiedelt werden sollen. Seither entstanden 20 neue Einrichtungen im Westen und nur fünf im Osten, ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Forschungseinrichtungen, die vom Bund kofinanziert werden. Unverständlich ist, dass die Forschungsfabrik Batteriezelle (FFB) im westfälischen Münster entstehen soll, anstatt im sächsischen Großröhrsdorf.
Gleichzeitig sind andere Regionen sowie der gesamte ländliche Raum Ostdeutschlands einem stetigen Aderlass an Fachkräften und Auszubildenden ausgesetzt, die ihre Region nicht selten für immer gen Westen verlassen. Die Zahl der Auszubildenden hat sich in den östlichen Bundesländern seit den 90er Jahren mehr als halbiert, während diese im Westen um lediglich 12 Prozent zurückging. Daraus resultiert ein andauernder demographischer Anpassungsdruck in den ländlichen Regionen, wo 70 Prozent aller Handwerksunternehmen als Nahversorger, Dienstleister, Produzent, Ausbilder sowie Arbeitgeber tätig sind. Diese Unternehmen tragen durch ehrenamtliches Engagement und die Unterstützung von Sport-, Kultur- und Freizeitaktivitäten maßgeblich dazu bei, dass diese Regionen auch weiterhin eine Bleibe- und Entwicklungsperspektive für Menschen jeden Alters bieten.
Bedingt durch die kleinteiligere Wirtschaftsstruktur, fehlende Fachkräfte sowie mangelnde Mobilität und Innovationsvoraussetzungen infolge vernachlässigter Investitionen in die Verkehrs- und Infrastruktur einschließlich Breitbandausbau sowie nicht eingelöster Versprechen in Bezug auf die Ansiedlungspolitik von Bundeseinrichtungen besteht dringender Handlungsbedarf.
Zu große Disparitäten stellen den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland in Frage, wie zurückliegende Kommunal- und Landtagswahlen zeigen. Das zukünftige Fördersystem des Bundes und der EU zur Entwicklung regionaler Wirtschaftsstrukturen muss auch künftig einen besonderen Schwerpunkt auf die Regionen in Ostdeutschland legen.
Die Präsidenten der ostdeutschen Handwerkskammern fordern:
I. Investitionen in Mobilität, Verkehrsinfrastruktur und Breitband
Investitionen in den Erhalt und Ausbau der Verkehrsinfrastruktur und des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) müssen durch Bund, Länder und Kommunen auch in Zukunft sichergestellt werden, um einer zunehmenden Entleerung ländlicher Gebiete entgegenzuwirken.
Konkret: - weiterer Ausbau des Autobahnnetzes und seiner Anbindungen (z.B. A14 Nordverlängerung der A14 vom Kreuz Magdeburg nach Schwerin, A20 zügiger Ausbau der Trasse mit dem Abschnitt Tribsees - Sanierung der jahrelang vernachlässigten Autobahn-Brücken - Beschleunigte Planungsverfahren, besseres Baustellenmanagement und Koordinierung zwischen Planungsbeteiligten
Bund und Länder müssen den Ausbau der Bahnverbindungen sowie die Aktivierung von Bahntrassen im ländlichen Raum voranbringen im Sinne nachhaltiger Verkehrs-, Umwelt- und Klimapolitik.
Konkret: - Beschleunigung der Bahnstrecken und höhere Takte zwischen den Ober- und Mittelzentren mit den Ballungsräumen. - Zweispuriger Ausbau wichtiger Bahnstrecken z.B. zwischen Leipzig und Chemnitz - Fortsetzung der Elektrifizierung wichtiger Bahnstrecken in Ostdeutschland
Das Handwerk fordert einen weiteren Ausbau des ÖPNV auf dem Lande, denn nur wenn diese Regionen gut an die Mittel- und Oberzentren angebunden sind und es regional angepasste, flächendeckende und bezahlbare öffentlichen Mobilitätsangebote vor allem für Kinder, Jugendliche und ältere Menschen gibt, bleiben auch künftig diese Regionen für alle Generationen als Arbeits- und Lebensraum attraktiv.
Konkret: - Das Handwerk fordert die Einführung eines Azubi-Ticket in allen Teilen Ostdeutschland.
Für wettbewerbsfähige Handwerksunternehmen ist eine funktions- und leistungsfähige digitale Infrastruktur zwingend erforderlich. Dies gilt vor allem für den ländlichen Raum. Schnelles und zuverlässig verfügbares Internet ist Voraussetzung für die Möglichkeiten der Digitalisierung sowie ein Anreiz für Unternehmensansiedlungen.
Konkret: - Zum Abbau von Funklöchern und weißen digitalen Flecken gerade im ländlichen Raum sollten neben dem Mobilfunkstandard 5G auch Vorläufer-Techniken weiter ausgebaut und der Breitbandausbau beschleunigt werden. - Konsequente Digitalisierung von Verwaltungsprozessen, um öffentliche Dienstleistungen für Unternehmer und Bürger in ländlichen Regionen effizient und sicher abzuwickeln
II. Arbeitsplätze in strukturschwachen Regionen schaffen und erhalten
Der Bund muss insbesondere Bundesbehörden und Bundeinrichtungen (nicht nur Niederlassungen und Ausgründungen) sowie außeruniversitäre Forschungseinrichtungen und staatlich geförderte bzw. subventionierte technologische Entwicklungsvorhaben bevorzugt in strukturschwachen bzw. vom Strukturwandel betroffenen Regionen vornehmen. Hierfür kommen v.a. Regionen in Ostdeutschland in Frage.
Mit einem gesamtdeutschen Fördersystem muss Ostdeutschland gemeinsam von Bund und Ländern im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ (GRW) sowie „Agrarstruktur und Küstenschutz“ (GAK) sowie den geplanten KohleStrukturhilfen weiterhin ausreichend gefördert werden, um den Strukturwandel zu unterstützen und Ungleichheiten auszugleichen. Die GRW-Förderung muss um Förderungen von lokalen Investitionen, Ausrüstungsgütern und Innovationen ergänzt werden, da zahlreiche Handwerksbetriebe als Nahversorger in einem geringeren Umkreis als die förderpolitisch geforderten 50 km agieren.
Eine spezifisch ostdeutsche Herausforderung stellt die Betriebsnachfolge dar. Die in den 90er Jahren gründeten Unternehmen Ostdeutschlands stehen in großer Zahl zur Übergabe an und immer seltener gelingt es, das Unternehmen innerhalb der eigenen Familie zu übergeben. Die Unternehmen benötigen daher weiterhin der finanziellen Unterstützung der Politik, um Arbeits- und Ausbildungsplätze in den ländlichen Regionen zu erhalten.
Handwerkskammer Halle (Saale)
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